Farben einst und heute, oder wie uns Zeitgeist und Alter narren
Heute sind Farbe und Farbpigmente in grossen Mengen und einer breiten Palette verfügbar. Im Mittelalter hingegen mussten Farbpigmente teils über weite Strecken mit Handelskarawanen importiert werden; sie waren teuer und nicht ohne weiteres greifbar. Romanische Kirchenräume sind dunkel, die mittelalterlichen Künstler trugen diesem Umstand Rechnung. Es wurden Farben und Farbkombinationen eingesetzt, welche im Dämmerlicht der Innenräume eine starke Kraft entfalteten. Ein Beispiel dafür lässt sich in der Kirche St. Martin in Zillis (GR) finden. Die dortige bemalte Holztafeldecke wurde zwischen 1109 und 1114 von unbekannten Künstlern geschaffen.
Mit modernen Leuchten erhellt wirken die Farben der Decke matt und milchig, da durch das heutige Licht der Weissanteil und die darunter liegende helle Grundierung einen überproportionalen Anteil an der Farbwirkung erhalten. Im Dämmerlicht betrachtet wirken die bunten Bilder deutlich lebendiger und fangen regelrecht an zu vibrieren. Damit wird klar, dass der stark graphische Charakter der Malerei der Romanik und frühen Gotik der Darstellungsweise entspricht, die für das trübe Licht der kleinfenstrigen Kirchen ideal ist.
Als weiterer Umstand täuschen einen die Alterungsspuren der Kunstwerke. Im Fall von Zillis verhält es sich so, dass ganze Farbpartien in den vergangenen 900 Jahren verloren gegangen sind. So weiss man aus mikroskopischen Untersuchungen, dass zum einen die Lasuren, mit Hilfe derer die Gesichter der dargestellten Personen plastisch gemacht wurden, als auch der oberste Farbstreifen des Hintergrunds der einzelnen Bildtafeln weitestgehend verschwunden sind. Das Beispiel zeigt, dass wir bei mittelalterlichen Malereien sowohl unsere Sehgewohnheiten als auch den Zustand der Bilder hinterfragen müssen.
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