Wenn Ingenieure von heute die Brücken von gestern betrachten
Die Betonbrücke von Merjen (VS, 1928-1930), entworfen von Alexandre Sarrasin, ist eine Spannbogenkonstruktion, wie die Brücke von Val Tschiel (GR, 1925), die von Robert Maillart konstruiert wurde. In Merjen ist aber die Wölbung deutlicher ausgebildet als in Val Tschiel, als ob die Komponente «Bogen» eine höhere Wichtigkeit hätte als die Funktion «Träger» der Brüstungen. Bei Maillart dagegen ist es umgekehrt. Es sind hier zwei unterschiedliche Haltungen bezüglich der Ästhetik der Bauwerke zu beobachten. Während des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts ersetzten die SBB die Metallkonstruktionen der Brücken aus der Entstehungszeit des Schienennetzes durch steinerne Bogen. Der schlechten Beständigkeit der Metallbauten und ihrer Wirkung in der Landschaft wurde der «ewige» Charakter des Steins vorgezogen. Der Eisenbeton erwies sich dabei als Ersatz für den Steinbau.
Robert Maillart wandte sich dabei deutlich gegen die Rückkehr zur Tradition und die Monumentalisierung der Kunstbauten. In einem Artikel griff er jene an, die vorgaben das Kulturerbe und die Landschaft mit Bauten zu verteidigen, die direkt von der Vergangenheit inspiriert waren. Für ihn war der armierte Beton ein Material, das dem Ingenieur erlaubte, ganz neue Formen zu schaffen. Sarrasin dagegen bemühte sich, dem traditionellen Bogen den Vorrang zu geben. Hierin einfach einen Gegensatz zwischen konservativer und innovativer Vision zu sehen, greift aber zu kurz, hat doch der vorgespannte Betonbogen nur noch wenig mit dem steinernen gemein. Sicherlich ist hier eine Faszination für die elementare Form des Bogens zu erkennen, welche allein schon die Brücke symbolisieren kann. Es wird deutlich: Die Betrachtung vergangener Bauwerke ist eine Quelle der Inspiration für Ingenieure, wo der Blick auf das Vergangene hilft, die Gegenwart neu zu erfinden.
Bild: Archives Alexandre Sarrasin